Am 16.06.2023 diskutierten zwischen 15 und 18 Uhr im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte über 80 Teilnehmende im Rahmen der Jahresveranstaltung 2023 der Stiftung Nord-Süd-Brücken Ansätze global gedachter Solidarität, anknüpfend an das Buch von Alexander Behr: „Globale Solidarität: Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen“. A. Behr steuerte per Video auch einen einleitenden Input bei, welcher hier angeschaut werden kann:
Das Programm der Veranstaltung sowie weitergehende Informationen zu den Referierenden finden Sie hier (flyer). Die Stiftung wird ihre Veranstaltungen zum Thema Globale Solidarität fortsetzen, unter anderem mit einem geplanten Fachtag gemeinsam mit ostdeutschen Landesnetzwerken Ende des Jahres.
Weitergehend haben wir einige Gedanken und Erkentnisse der Jahresveranstaltung ohne den Anspruch auf Vollständigkeit dokumentiert.
Zum Begriff der Globalen Solidarität: Es gab verschiedene Referenzen zum Begriff, der Vielschichtigkeit und Komplexität der Globalen Solidarität. Es wurde angemerkt, dass Solidarität nicht immer freiwillig, sondern auch erzwungen sein kann. So zum Beispiel von jenen, die aus dem Exil heraus, auf der Flucht oder in der Migration ihre Liebsten im Land unterstützen (z.B. Rücküberweisungen) oder sich als eine Reaktion auf Diktatur und Repression solidarisch engagieren. Darüber hinaus wurde gefragt, wo und wie sich Hilfe und Solidarität unterscheiden? A. Behr nimmt in seinen zehn Thesen eine deutliche Abgrenzung zwischen der karitativen Geste der Hilfe und der politischen Solidarität vor. Hier schloss eine Diskutantin mit der Beobachtung an, dass koloniale Machtgefälle (Nord-Süd-Narrative) weiterhin unser Denken prägen und heutige Solidarität häufig noch immer aus einer White-Saviour-Perspektive betrachtet wird. Eine Aktivistin merkte in diesem Rahmen außerdem an, dass wir bewusster kommunizieren müssen. Um vorherrschende Narrative aufzubrechen, sollten wir z.B. nicht von einem Kopftuchprotest schreiben, sondern die Dinge richtig betiteln: Im Falle des Irans ist dies eine versuchte Revolution. Hinterfragt wurde von der Aktivistin auch unser Motiv nach Globaler Solidarität: Kümmert Euch doch erst einmal um die Menschen, die versuchen, nach Europa zu kommen und an den Grenzen schikaniert und zu lebensgefährlichen Passagen gedrängt werden. Gleichzeitig betonte ein Engagierter, dass für eine globale Solidarität auch eine Solidarität unter den Akteur*innen im Globalen Norden hilfreich ist. Insbesondere im ländlichen Raum, wo es nur wenige entwicklungspolitische Akteure gibt, können so größere Aktionen gestemmt werden. Es zeigt auch, dass die Aktiven/Engagierten niemanden alleine lassen und sie als gemeinsame Bewegung auch mehr erreichen können in Sachen globaler Solidarität und Gerechtigkeit.
Elemente Globaler Solidarität: Es wurden einige Zutaten und Elemente von Globaler Solidarität genannt: „Vertrauen“ als Gegenentwurf zu Infragestellung und Misstrauen, welches in der Folge auch zu Entsolidarisierung führt. Wir sollten vielmehr eher schauen, wie wir über Vertrauen und Versöhnung eher breiter und mehr werden und uns besser gegenseitig unterstützen. Eine Basis für Globale Solidarität ist wohl auch die Unbestechlichkeit gegenüber jeglicher Form von Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Ausbeutung, egal von welcher Seite. Es wurde noch die Bedeutung von Selbstehrlichkeit im Kontext von Solidarität genannt. Weitere wichtige Punkte sind die Haltung, konstruktive Herangehensweise, Rolle/Einsatz von Kunst und Kultur und das Finden von Verbündeten. Eine Aktivistin verwies mit Blick auf die Haltung der Zapatist*innen darauf, dass es wichtig sei, nicht aufzuhören kritisch zu fragen/sich selbst zu befragen. Ein Diskutant benannte zum Schluss noch Gleichberechtigung und Respekt, gemeinsame Verantwortung für die Welt, Zusammenarbeit und Partnerschaft, Empowerment und Kapazitäten!
Perspektiven, Positionen: Es gab auch eine breite Kritik an der Wahrnehmung und Darstellung von „westlichen“ globalen Krisen. Mehrere Diskutierenden verwiesen darauf, dass es für die Menschen/Gesellschaften im Globalen Süden schon sehr lange und dauerhaft diese Krisen gibt, das Krisenhafte sei vielmehr dauerhaft, auch wenn der Globale Norden/“die Medien“ es punktuell hochholen und auch wieder fallenlassen…, z.B. auch wenn die Berichterstattung über den Iran nun aus den Medien ist, ist der Kampf und der Widerstand immer noch da. Die Komplexität und die verschiedenen Blickwinkel auf Globale Krise und Solidarität müssen verstanden und zugelassen werden. In diesem Kontext wurde von einem Teilnehmer auch die Verwendung des Konzeptes von „Buen Vivir“ durch weiße Menschen hinterfragt/kritisiert: Es sei nicht an Weißen vorschnell mit diesem Konzept zu werben, ohne die dahinter liegende Großzügigkeit anzuerkennen: Obwohl Ihr uns viel schuldet (Reparationen für Kolonialismus, Verschleppung und Versklavung, Zerstörungen, auch durch die Umweltverschmutzung), sind wir bereit, auch für Euch ein gutes Leben zu denken und zu fordern. Es gab unter den Referierenden viel Zustimmung und Einzelreferenzen zu Alexander Behrs Thesen, vor allem zu dem Punkt solidarischer Netzwerke: Eine Diskutantin machte hier noch einmal sehr stark, sich auch Netzwerken wie GCAP (Global Call to action against Poverty) aus dem Globalen Süden anzuschließen und den gemeinsamen Dialog voran zu treiben. Zustimmung gab es auch an der Kritik der kapitalismus-und wachstumsorientierten Produktionsweise. Ein Aktivist meinte, wir hier im Globalen Norden müssen weniger verbrauchen. Darum geht es ebenso und wie um die Forderung nach einem Umdenken im Bereich von Energie und Verkehr. In diesem Kontext wurde von einer Diskutierenden auch auf die geringe Toleranz gegenüber anderen Denkschulen und -ansätzen innerhalb der linken Szene in Deutschland verwiesen. Dies erschwere Bündnisse mit anderen Gruppen und Vereinen. Sie fordert in diesem Rahmen auch pragmatischere Bündnisse zu schließen und inhaltliche Kritik nach hinten zu stellen um konstruktiv zusammen arbeiten zu können. Eine Aktivistin widersprach Alexander Behr was die Notwendigkeit der Institutionalisierung von Bewegungen angeht, da diese ansonsten leer laufen würden. Die Aktivistin meinte, das sei ein sehr pessimistisches Menschenbild.
Hindernisse: Im Rahmen der Podiumsdiskussion wurde ebenfalls kurz über die Frage der Ungleichbehandlung von Geflüchteten aus unterschiedlichen Ländern gesprochen, wozu es sehr unterschiedliche Positionen gab. Eine Diskutierende merkte vor diesem Hintergrund an, man/frau müsse vorsichtig sein, sich nicht für die Hetze von rechten Medien gegenüber Flüchtlingen einspannen zu lassen. Zwar seien die Ungleichbehandlungen nicht begründet und definitiv nicht weiter zu tragen, andererseits ist durch eine reine Abschaffung der Privilegien für Ukrainer*innen auch niemandem geholfen. Vielmehr müssen sich jetzt konsequenterweise auch die Rahmenbedingungen für andere Flüchtende verbessern. Ebenfalls hinderlich für globale Solidarität seien die Repressionen einzelner Staaten gegenüber global solidarischen Bewegungen, welche so versuchen ausländische Einflüsse auf ihren Staat minimal zu halten. Neben Repressionen einzelner Regime, welche Solidarität erschweren, ist auch eine rassistische Struktur in der Verwaltung und den Regularien vieler Länder zu finden. So müssen Einreisende aus Ländern des „globalen Südens“ häufig eine Art Kaution vorlegen, wenn sie in Länder des „globalen Nordens“ einreisen möchten. Andersherum dürfen Menschen mit dem „richtigen“ Pass, ohne finanzielle Sicherheiten vorweisen zu müssen, frei zwischen Ländern verkehren. Diese Formen von strukturellem Rassismus innerhalb der Gesetze und Verwaltungen einzelner Staaten sind unbegründet und gehören sofort abgeschafft.
Ideen, Vorschläge: Als mögliches Potenzial wird die globale Vernetzung durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch wahrgenommen. Besonders in Bereichen, in die bisher nur wenige Verbindungen bestehen, bergen neue Vernetzungen mit z.B. Jurist*innen, Politiker*innen oder wohlhabenden Spender*innen das größte Potenzial. Als weiteres bisher weitgehend ungenutztes Potenzial wird die Lobbyarbeit in Kleinstädten wahrgenommen. Hier lassen sich auch mit wenigen Mitteln Impulse bis in die Politik tragen.